Selbst Taubenscheiße kann dein Lehrer sein!
Sie riss die Augen auf und bremste ab, ihr Fahrrad kam einen Zentimeter vor meinem Vorderreifen zum Stehen. Ich wartete auf Grün, sie offenbar auf den Messias. Ihrem Blick nach zu urteilen erkannte sie ihn in mir. Ich trug eine Wollmütze, unter der man bei diesen plötzlichen Südsee-Temperaturen ein Ei hätte pochieren können. Sie schrie: „Ich kenne Sie!“ Ich lächelte milde, sicher, sie würde gleich anfangen zu schwärmen, dass sie ein Riesenfan meiner Kolumnen sei. Meine Lippen formten bereits eine Dankesrede, ach, wie schön, das freut mich, ja, ja, Susanne Kaloff, das bin ich wirklich. Als sei ich Lady Gaga auf dem Broadway. In Wahrheit stand ich mitten auf der Max-Brauer-Allee in einem Haufen Taubenscheiße und kämpfte mit Weltschmerz. Ich fürchte, nicht die Einzige zu sein, die in diesen surrealen Zeiten ein wenig aus der Balance geraten ist. Die Dame fragte: „Waren Sie mal Lehrerin? Ich kenne Sie!“ Ich: „Äh, nein.“ Sie: „Dann sehen Sie ihr aber sehr ähnlich.“ Ich lächelte weiter, weil mir nichts Besseres einfiel auf dieser vierspurigen Straße und weil ich in den letzten Wochen genug geflennt hatte.
Zuhause sah ich mich im Flurspiegel an: Lehrerin? Hmmh, sehe ich echt aus wie eine Lehrerin? Und wie sehen die aus? Ich zog meine Ethno-Jacke aus und rief eine Spur zu panisch meinen Friseur an: „Ersan, ich brauche neue Paintings!“ Danach gab ich in die Suchmaschine ein: Flüchtlingen Deutsch beibringen. Es gab keinen Treffer, nur eine amtliche Stelle, wo man sich bewerben konnte für den Fall, dass man Lehramt studiert habe. Ich habe nicht studiert, weder Lehramt noch sonst was, aber ich kann lesen und schreiben. Wenn man sich hilflos fühlt, hilft es, anderen zu helfen. Nee, kein christlicher Kalenderspruch, sondern Lebenserfahrung. Ich weiß auch, dass Self-Care hoch gehandelt wird, das Argument ist meist, man müsse sich ja erst mal gut um sich selbst kümmern, bevor man anderen unter die Arme greifen kann. Gut möglich, dass das stimmt, aber dann wachte ich nachts auf, spürte ein weiches, trockenes, warmes Kissen unter meiner Wange und schämte mich, mir ernsthaft Gedanken über die Nuance meiner Haare gemacht zu haben. Oder darüber, ob meine Omega-3-Kapseln pflanzlichen Ursprungs sind, ich eine Abhyanga- oder lieber eine Lomi Lomi Massage buchen soll. Auf der Website einer Hilfsorganisation für Flüchtlinge aus der Ukraine schaltete ich eine Anzeige: Hausaufgabenbetreuung. Muss ja niemand wissen, dass ich an manchen Tagen selbst nicht mal bis drei zählen kann. Bisher hat sich niemand gemeldet. In der Wartezeit blätterte ich in einem Rilke Gedichtsband, das mir meine Mutter geschenkt hatte, als ich 20 Jahre alt war. In einer Seite ist ein Knick: „Was hast Du gegen das Schwere?“ Mensch, Rainer Maria, was ist denn das für eine bekloppte Frage! Ich will endlich wieder Leichtigkeit, will auf einem Hügel in der Toskana unter Pinien sitzen, Oliven essen und rein gar nichts fürchten, ich will die Welt ohne Abstand und Hygienevorschriften umarmen, barfuß auf Tischen tanzen, ich will Unbeschwertheit zum Frühstück essen und mit Sorglosigkeit in die Kiste springen, ich will Frieden haben! Keinen blassen Schimmer, wo die Stimme herkam, aber sie flüsterte: Krieg fängt innen an. Hoffnung fängt innen an. Frieden fängt innen an. Alles beginnt innen. Selbst eine reine Haut. Und Rilke hatte wie immer das letzte Wort: „Es ist deine Pflicht, das Schwere zu lieben. Du musst da sein, wenn es dich braucht.“ Glaube, aus mir wär’ ne gute Lehrerin geworden.